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Montag, 20. April 2020

Nie einmal noch weg, Auszug I

Er kippte sein Pils und den Jägermeister runter, verabschiedete sich von den alten Kaminskis und allen, die er sonst noch so kannte und ging mit Tochter Kaminski, Alex und seinen Klonen nach draußen. Er dachte an Jonas, Charlotte und das letzte Taubertshausener Sportfest und hätte sich gewünscht, ein Bier für unterwegs mitgenommen zu haben. Sein Oberschenkel pulsierte auf bedenkliche Art und Weise. 
Vor der Taverne atmete er kurz und tief durch, was ein Widerspruch an sich war und er musste mehrmals husten. Neben ihm stand der kalkweiße Stehtisch vor dem viel zu niedrigen Fenster der Taverne und um ihn herum zu viele Menschen, die zu weit entfernt vom Aschenbecher standen, um ihn akkurat zu treffen. 
„Kommt Bizzi eigentlich auch?“, fragte Tochter Kaminski Lukas betont unverfänglich und er nickte, während sie zum Wagen schlenderten. „Aber keine Angst, den kriegen wir schon gebändigt“, beschwichtigte Lukas, worauf sie nur komisch guckte und nichts mehr erwiderte. Er hatte das Gefühl aneinander vorbeigeredet zu haben, ohne dass irgendwer von beiden was dafür konnte, was es umso absurder machte. Sei‘s drum. 
Alex kurbelte in seinem Golf alle Scheiben herunter und drehte ein viel zu basslastiges Lied voll auf. Aux-Kabel in iPhone, eine Hand am Lenkrad und kurz Gedanken zulassen, für die während des restlichen Abends keine Zeit mehr sein würde. Lukas fühlte sich betäubt, ergo gut. Mit quietschenden Reifen fuhr sein 18-jähriger Fahrer davon und heizte durch das Dorf, bis er auf der Landstraße nach Taubertshausen angekommen war, die sehr eng und wellenförmig daherkam. Wenn uns bei diesem Tempo ein Auto entgegenkommt, dachte Lukas, haben wir eine Fünfzig-fünzig-Chance nicht von der Straße zu fliegen. Er schloss die Augen und genoss die Geschwindigkeit. 
Lukas sah verschiedene Grüntöne mit dunklen Schattierungen an sich vorbeirauschen und bedeutete Alex mit einer Geste, ob man in seinem Auto rauchen durfte. Der Fahrer zeigte ihm mit schuldbewusster Miene den Vogel und drehte die Musik kurz etwas leiser. „Den teil ich mir mit meiner Schwester, sorry“, sagte er und entschleunigte minimal, als sie auf das Ortsschild zufuhren. Lukas sah im Rückspiegel wie Tochter Kaminski über eine Nachricht lachte, die auf ihrem Handy aufgeploppt war. Dadurch, dass alle Fenster offen waren, wirbelte der Wind um alle herum, wie ein aufgepeitschter Tornado und ließ selbst die auf Anschlag gedrehten Boxen dumpf wirken. 
Plötzlich überkam Lukas ein heftiger Anfall von Schwermut darüber, wie dieser Abend bisher gelaufen war. Er sah vor sich, wie es hätte sein können. Jonas wäre natürlich da gewesen, mit ihm, Bizzi, Locke und Kaminski nach dem Training in die Taverne und erst um halb zwölf auf das Sportfest, zu fünft in ein kleines Taxi gequetscht, zur Not hätte sich Bizzi quer über die Rückbank gelegt. Ausgelassen, unbedarft, mit blindem Verständnis für die jeweils anderen, ihre Probleme, ihre Sorgen, ihre Freude. Weil es schon immer so war und weil sie eigentlich sonst nichts gebraucht hatten an diesem Abend. Gleich erst einmal an die Schnapstheke und wenn die PartyShakers ihr Live-Programm starten würden, natürlich so nah wie möglich an die Bühne, um richtig abzugehen. Irgendwann Maya gesehen und sie zu sich gezogen, ihr durchs Haar gestreichelt und sie peinlich geküsst. Mit ihr getanzt, während das wechselnde Licht sie in eine mystische Aura taucht. Ihr strahlender Blick, so als wäre er alles, was es zu sehen galt, als wäre er jemand, um den sie sich selbst beneidete. Jeder beneidete ihn um Maya. So aber vorerst das ungute Gefühl, schon verloren zu haben, bevor das Spiel überhaupt angepfiffen wurde. 
Hinten wurde ein Witz gemacht, bei dem Fahrer und Beifahrer nicht mitlachen konnten, weil der Wind in den Ohren schallerte und die Musik immer noch viel zu laut war. Sie kamen dem Sportfest langsam näher und Alex drehte allmählich leiser, weil er sich dadurch besser auf etwaige Parkplätze konzentrieren konnte. Er fand einen in der Mitte der großen Wiese neben dem Festzelt, die zum Parkplatz umfunktioniert worden war. Es standen schon circa zweihundert Autos dort, es war also schon was los, aber noch Luft nach oben. Das Sportfest des SV Taubertshausen war so ziemlich das größte in der Region, um die tausend Leute waren zu erwarten, die sich dieses Spektakel nicht entgehen lassen wollten. 
„Wollt ihr euch nicht andere Schuhe anziehen?“, fragte Lukas die drei Jungs mit Blick auf ihre weißen Adidas Sneaker, als er sich beim Aussteigen eine Kippe angezündet hatte. 
„Dieses Jahr hat das Zelt zum ersten Mal festen Boden“, erklärte Alex achselzuckend. Lukas wusste nicht mehr, was er darauf antworten sollte und ging einfach schweigend neben den Jungs her, die jetzt eine lustige Geschichte vom letzten Jahr zum Besten gaben, als Alex wohl im Zelt eingeschlafen und vergessen worden war, am nächsten Tag aber gegen Saarbrücken in der Regionalliga zwei Tore gemacht hatte. 
Lukas wollte sich seine Belustigung nicht anmerken lassen, dachte ebenfalls an das letzte Jahr und konnte Jonas verstehen, dass er in Mainz geblieben war. Das große weiße Zelt, durch dessen Wand sich schon Gitarrenklänge und bunte Lichter den Weg nach draußen bahnten, thronte neben dem Sportgelände wie ein Schloss. Hier war vor zwölf Monaten etwas zu Ende gegangen. Er würde lügen, wenn er sagen würde, dass es ihm selbst nicht wehgetan hätte. Aber man sollte die Bedeutsamkeit von Dingen nicht danach bemessen, wie viel Schmerz sie verursacht hatten. Eigentlich hätte es Jonas und ihn enger zusammenschweißen müssen, doch die räumliche Trennung war die direkte Konsequenz des Abends gewesen. So sah er es zumindest, es war aber auch schwierig, es nicht als direkte Folge davon zu interpretieren. 
Stimmengewirr, wie ein Insektenschwarm, man konnte Vorfreude, Sehnsucht, Glückseligkeit, Ausgelassenheit, erste Küsse, heraufziehende Beziehungsprobleme und Herzknacksen heraushören. Der Klang des Sportfestes. 
„Ich geh mal die anderen suchen“, erklärte Lukas Alex und Tochter Kaminski, während er die drei Euro Eintritt bezahlte, in denen ein Freigetränk enthalten war. „Danke fürs Fahren!“ „Kein Thema, kannst dich später mit einem Bier revanchieren, ich lass das Auto stehen.“ 
Lukas nickte ihm zu und machte sich auf die Suche nach seinen Freunden, die er wie einen Schutzschild brauchte. Sie waren die geheime Zutat, die diesen Cocktail an potenziellen Emotionen, die so ein Abend auslösen konnte, in etwas Wunderbares verwandeln würden. Er ging hinein und der erste Mensch, den er sah, war Charlotte. 

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